, Yvonne Völkl

Ein grauer Schwan über Europa

Mit Ivan Krastev auf der Suche nach Orientierung

Mit Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändern wird unternimmt der bulgarische Politologe Ivan Krastev, wie bereits andere Europa-Spezialist*innen von ihm, eine Evaluierung der Corona-Krise in Europa und stellt eine Prognose für die europäische post-Corona Gesellschaft.  

Krastev beginnt seinen Essay, der Mitte Juni 2020 in mehr als 20 Sprachen erschien, mit der Metapher des grauen Schwans. In der Wirtschaftssprache stehen graue Schwäne für voraussagbare Ereignisse, die die Welt auf den Kopf stellen können, im Grunde aber undenkbar sind. Nachdem bereits mehrmals von diversen Institutionen und Individuen vor einer weltweiten Epidemie gewarnt wurde, ist die Corona-Pandemie als ein solch grauer Schwan zu werten. Seit dem Ausruf der Pandemie am 11. März 2020 kreist dieser nun über Europa und der Welt. Bis zu diesem Tag, so erklärt Ivan Krastev, erschienen den meisten Europäer*innen nämlich die Schließung innereuropäischer Grenzen, die Aufgabe der Privatsphäre für Sicherheit oder die Vergemeinschaftung von Schulden unvorstellbar – und das trotz der bisherigen drei großen Krisen des 21. Jahrhunderts, zu denen 9/11, die Finanzkrise 2008/09 und die Flüchtlingskrise 2015 zu zählen sind.  

Im Verlauf des Essays weist Krastev auf die Gefahren hin, die die Corona-Krise für die europäische Gesellschaft berge, verabsäumt es jedoch nicht auch auf die Chancen, die in ihr liegen, hinzuweisen. Insbesondere sieht er in den Corona bedingten Lockdowns und dem Social Distancing eine Gefahr für die liberalen Demokratien, denn Menschen müssen „die Möglichkeit haben, Teil einer Menge zu sein, ein Kollektivkörper, der die Intensität ihrer politischen Leidenschaft ausdrücken kann“ (58). Erst Bewegungs-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Möglichkeit zu Wahlkundgebungen zu gehen, Massendemonstrationen abzuhalten oder aktivistischen Protest auszuüben, verhelfen den Bürger*innen zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl, das überlebenswichtig für funktionierende Demokratien und derzeit nicht bzw. nur in eingeschränktem Maße vorhanden sei. Von wesentlicher Bedeutung sei es deshalb, dass Staaten den Ausnahmezustand nur auf Zeit konzipieren, da die zeitliche Begrenztheit als Indiz gewertet werden kann, ob die Machthabenden eher in Richtung demokratischer oder autoritärer Politik steuern. Ebenso wichtig sei die Möglichkeit, öffentlich und unzensiert Kritik an den Regierenden zu üben sowie eine retrospektive Evaluierung (inklusive etwaiger Sanktionen) der Maßnahmen zur Eindämmung der Krise vorzunehmen.  

Als Chance wertet Krastev schließlich den seit der Finanzkrise 2008/09 stärker werdenden Trend zu globaler Fragmentierung und Regionalisierung, der nach der Corona-Krise weiter beschleunigt werde. Spätestens dann könnte der graue Schwan der Pandemie auch die EU beflügeln, indem beispielsweise der Druck der Deglobalisierung die europäische Gesellschaft dazu bringe, „noch mehr gemeinsame Strategien zu verfolgen und sogar einige Notstandsvollmachten auf Brüssel zu übertragen“ (77).    

 

Ivan Krastev (2020) Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändern wird. Berlin: Ullstein Verlag, übersetzt von Karin Schuler, 96 Seiten, 8 Euro.